Auch schwierige Entscheidungen sind zum Treffen da

In den letzten Wochen habe ich eine Entscheidung getroffen und diese auch schon konsequent durchgezogen. Dennoch regt sich in mir jedes Mal, wenn ich von dieser erzähle, der Drang, mir während dessen ein „Bitte nicht nachmachen“-Schild um den Hals zu hängen und mit der Stimme so leise und tief zu werden, als würde ich bei gedämpftem Licht und mit dem Strahl einer Taschenlampe im Gesicht eine Gruselgeschichte erzählen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit dem 01. Oktober 2016 kann ich offiziell nicht mehr umsonst mit Bus und Bahn fahren (und ich bin infolgedessen sehr schockiert, wie viel man inzwischen für eine Fahrkarte bezahlen muss!). Ich bekomme keinen Rabatt mehr, wenn ich ins Kino gehe. Ich bin keine ordentliche Studentin mehr, ja noch nicht mal mehr eine unordentliche. Denn ich habe mich exmatrikuliert. Oder, um es ganz dramatisch zu sagen, ich habe mein Studium hingeschmissen. Abgebrochen. Weggeworfen. Beendet. Schluss, aus, vorbei. Ohne Abschluss.

Man könnte jetzt meinen, dass das heutzutage nichts Besonderes mehr sei. Ein Studienabbruch kommt inzwischen häufiger vor und ist grundsätzlich auch nichts, wofür man sich schämen müsste. Das, was meine Entscheidung so gruselig werden lässt, ist jedoch, dass ich fast fertig war. Ich stand kurz vor meiner Bachelorarbeit, hatte zuvor nur noch zwei Hausarbeiten und einen Praktikumsbericht zu schreiben. Das ist, als würde man bei einem knapp 43km-Marathon nach 40km aufhören, weil einem die Puste ausgeht. Tja. Doof.

Die unbarmherzige Qual der Wahl

Würde ich meine Entscheidung jetzt aber verteufeln, wäre das unfair mir selbst gegenüber. Denn ich habe mich alles andere als unüberlegt hierzu entschlossen, im Gegenteil: Mit den Nerven, die dafür draufgegangen sind, könnte man ganze Ozeane füllen.

Die unbarmherzige Qual der Wahl

An einem guten Tag würde ich sogar ganz leicht dazu tendieren, dass es die richtige Entscheidung gewesen sein könnte: Ich habe bereits mehr als 1 1/2 Jahre lang nicht mehr aktiv studiert, weil dies aufgrund der Erkrankung nicht mehr möglich war. Würde ich mein Studium fortsetzen, dann hieße das, dass ich inhaltlich nicht nur einiges auffrischen sondern noch mal ganz neu lernen muss. Zudem müsste ich fast nur noch wissenschaftliche Hausarbeiten schreiben, die mir während meiner aktiven Studienzeit aufgrund von Antriebs- und Konzentrationsstörungen immer besonders schwerfielen. Und ich hätte mir noch mindestens ein Urlaubssemester nehmen müssen, um stabil genug für all das zu werden.
Hinsichtlich der Schaffbarkeit klingt das alles zumindest sehr unsicher und die Gefahr ist groß, dass ich noch weitere Semester in diesem Studium verharre, ohne wirklich voranzukommen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr Angst machen mir die Anforderungen, die das Beenden des Studiums mit sich bringt. Und je mehr Angst ich habe, desto lethargischer werde ich. Es ist tatsächlich so: Solange ich die Wahl habe, quäle ich mich, weil ich nicht weiß, was ich tun soll, nicht weiß, was richtig ist, nicht weiß, was ich schaffen könnte und was nicht.
Was ich aber weiß ist, dass ich eine Aufgabe brauche, dass ich Erfolgserlebnisse brauche – das Studium versetzt mich in einen Zustand der Schwebe und macht mich unfähig, irgendetwas zu tun. Und es wirft mich zurück, indem es mir aufzeigt, was ich alles nicht hinbekomme. Es ist nicht mehr mein Weg. Vielleicht war es das noch nie.

Diese ganzen Argumente hindern mich jedoch nicht daran, ab und an auf höchstem Niveau zu jammern, denn:
Ich habe wirklich sehr viel Geld in dieses Studium gesteckt. Dieses Geld bekomme ich nicht zurück. Anstattdessen habe ich ganz viele Erfahrungen gesammelt, die ich nicht in den Lebenslauf meiner zukünftigen Bewerbungen packen kann. Ich bin quasi eine Fast-Bachelorette. Mein Lebenslauf wird also nur fast gut ankommen. Toll, oder? Kann sich nicht irgendwer kulant zeigen und mir wenigstens ein paar Euro wiedergeben?

An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.

Charlie Chaplin
An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.

Ich habe ja bereits angedeutet, die Entscheidung nicht unüberlegt getroffen zu haben. Planlos in die Zukunft gehe ich also nicht: Ich möchte eine sogenannte Abklärungsmaßnahme machen, die sich MOIN nennt. Diese dient zur Klärung, ob und welche Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben erfolgversprechend sind. Das bedeutet, dass in einem Zeitraum von vier Wochen und innerhalb einer Gruppe von ca. sechs bis sieben psychisch kranken Menschen Fähigkeiten, Belastbarkeit und Interessen getestet werden. Zudem wird die Maßnahme von Sozialpädagogen/-innen und Psychologen/-innen begleitet und im Abschlussgespräch überlegt, wie es beruflich weitergehen könnte. Das klingt für mich sehr, sehr vielversprechend und zum jetzigen Zeitpunkt genau richtig, um kleine Schritte voranzugehen. Denn die Problematik, gar nicht wirklich zu wissen, was mir liegt und welche Interessen ich überhaupt habe, bestand immerzu – daran hat auch das Studium nie wirklich etwas geändert. Hiermit eine Möglichkeit zu bekommen, mich besser kennenzulernen, würde eine tolle Chance darstellen.

In den letzten Wochen habe ich entgegen all meiner Zweifel und Ängste jedoch auch etwas Wichtiges lernen können:
Ich gehe lieber das Risiko ein, eine falsche Entscheidung zu treffen, als gar keine. Denn trotz der Zukunftsängste und dem nun beendeten Studium, was mir bisher wenigstens noch ein wenig Sicherheit geben konnte, fühlt sich die Situation nun doch wesentlich besser an. Ich muss mich nicht mehr verzweifelt fragen, WIE um Himmels Willen ich dieses Studium zu Ende bringen soll. Es bringt mich nicht weiter, ewig an etwas festzuhalten, von dem ich nicht weiß, ob und wann es wieder einen Weg für mich darstellen wird. Knapp zwei Jahre klammerte ich mich an dieses Studium, ohne dabei auch nur einen Schritt vorwärts gekommen zu sein. Nun muss ich ehrlich und realistisch sein und mir eingestehen, dass dies nicht mehr mein Weg sein kann. Und ich muss mir immer wieder sagen, dass das okay ist. Dass die letzten Jahre nicht umsonst waren und mich vieles gelehrt haben. Zum Beispiel, dass nicht immer alles geradlinig verlaufen muss, sondern dass auch Irrwege zum Leben dazugehören.  
„An den Scheidewegen des Lebens stehen keine Wegweiser.“ – ein Zitat von Charlie Chaplin, welches für mich bedeutet, dass es den einzig richtigen Weg nicht gibt und man seinen eigenen Weg selbst finden muss. Und das geht nur, wenn man beginnt, überhaupt einen zu gehen, anstatt an der Gabelung stehen zu bleiben und nach Richtungsweisern Ausschau zu halten. Entscheidungen gibt es an jeder Ecke. Und oft ist es besser, sich falsch zu entscheiden und daraus zu lernen – als keine Entscheidung zu treffen und stehenzubleiben.