Zwei Welten – Eine Entscheidung

Dort oben ist eine Fläche. Ebenerdig, ohne Geröll. Solch viele Stimmen, dass der Lärm unerträglich scheint. Jede Stufe hinauf ist ein Schritt in ungewisse Welten. Das Licht wird heller und brennt in den Augen, die Menschen trampeln, die Fläche bebt. Vorsichtig betrete ich das Neuland. Die Füße haften am Boden als wären sie von Leim bedeckt. Ich werde von hinten gestoßen und falle auf schillernde Härte. Sie treten auf mich, als würde ich nicht existieren. Sie scheren sich nicht um mich. Ich bin bloß ein Abbild der Bedeutungslosigkeit. Sie scheren sich um niemanden.

Ich bekomme Angst und beginne zu rennen. Selbstgefällige Münder überall. Ich atme Rasierklingen, die sich in meine Lunge bohren und fremde Seile schnüren mir die Kehle zu. Doch ich muss weiter. Dort hinten entdecke ich eine ruhige Ecke. Ich kämpfe mich durch. Wo bin ich? Was ist das für ein Ort? Ich will zurück in gedämpftes Licht und behagliche Stille. Es ist so laut. Die Ellbogen scheinen wie Messerspitzen, die sich in fremde Hüften bohren. Es scheint egal.

„Das Gute kennt nur eine Richtung“, hieß es doch immer und immer wieder. Zum Himmel hinauf, den Berg erklimmen, auf Wolke 7 schweben. Wo ist nun die Schönheit, die mir versprochen wurde? Es ist so grob hier. Ich höre fremde Herzen pochen, blau vor Kälte. Ihre Takte schlagen gleichgültig und unberührt. Sie schlagen nur für sich. Zur Selbsterhaltung.
Ein Mädchen taumelt. Menschen gehen an ihr vorbei und begutachten sie mit grausamer Abfälligkeit. Ein Mann geht auf sie zu, aber er hilft ihr nicht. Er stößt sie um. Sie fällt in Richtung des Spalts, aus dem ich kletterte, doch sie bleibt auf ihm liegen. Ich wische mir Krümel der Unmöglichkeit aus meinen müden Augen, doch noch immer liegt sie dort, als könne sie schweben. Umgeben von meiner Hoffnung, die ich dort verloren hatte. Keine Bewegung. Menschen bemühen sich nicht einmal, über sie hinweg zu steigen. Sie ist das Geröll, das ich suchte, geschunden von Achtlosigkeit und Ignoranz.

Ich muss etwas tun. Wie komme ich zu ihr? Wenn ich diesen Bogen schlage, könnte ich es schaffen. Vielleicht kann ich sie die Stufen hinab tragen. Es ist nicht weit, bis ich Hilfe bekomme. Es könnte funktionieren.
Dann renne ich los. Fremde Knie suchen nach mir, Schmerz durchströmt meinen Körper. Das Ziel ebnet mir den Weg, ich kenne die Richtung. Es ist nicht mehr weit. Jemand stellt mir ein Bein und ich falle, doch ich stehe wieder auf. Ich bin zu kurz davor, um ebenso Abfall zu werden. Immer weiter, obwohl mir der Atem fehlt. Die Luft ist so dünn hier.
Dann habe ich es geschafft. Ich steige die ersten zwei Stufen hinab und schreie alles hinaus. Ihr Arm ist nah genug, um sie zu greifen und zu mir zu ziehen. Das Licht blendet mich. Ich vereine alle Kräfte, die ich noch habe, doch sie liegt dort wie einbetoniert in unsichtbare Mauern. Die Tür scheint für sie fest verschlossen. Ich muss hier weg.

Frustriert steige ich die Stufen hinab. Das Licht vergeht, die Stimmen verklingen. Das Gefühl der Grausamkeit klammert sich verzweifelt an mich, doch ich will es nicht haben. Ob ihr jemand geholfen hat? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Es ist nicht mehr weit. Das grelle Licht ist vollends erloschen, Wärme breitet sich langsam aus. Ich brauche eine Pause, bevor ich mich den altbekannten Stimmen stelle. 

Was soll ich sagen? Die Wahrheit ist nicht gut genug, aber notwendig. Sie bedeutet enttäuschende Gewissheit und Stolz. Die Enttäuschung ist nur leider sehr viel besser zu erkennen.

Es ist anders, dort an der Oberfläche. Jeder sorgt gut für sich. Jeder redet mit anderen, aber hört nur sich selbst zu. Jeder ist das einzige Interesse von sich selbst.
Das eigene Genügen schafft ein gutes Leben, erbaut auf einem Gerüst aus Opfern der Belanglosigkeit. Hält es, schaut man auf bunte Farben und strahlenden Sonnenschein. Doch wenn man fällt, dann ist der Aufprall mächtiger als alles Leben bisher. Fremde Füße verhindern das Aufstehen, die Missgunst verhindert die Chance. Kann man sich selbst nicht helfen, dann gibt es keine Hilfe. So einfach und doch so schwer.
Hier unten im Tiefgrund kommt die Scheiße an, die an der Oberfläche hinuntergespült wird. Es ist dunkel und wir leben ein einfaches Leben. Die Sorgen sind groß und der Dreck verpestet die Luft. Wir graben zusammen nach Wasser und suchen nach Schätzen. Wir teilen Leid und geben Glück, ohne davon zu profitieren. Es könnte uns sicher besser gehen. Doch es kann uns nicht schlechter gehen, weil wir es nicht zulassen. Weil jedes Leid an Intensität verliert, sobald wir es teilen. Und weil wir nicht alleine mit uns sind.

Meine Pause ist vorbei, der Weg ist nicht mehr lang. Sie werden mich fragen, wie es mir gefallen hat. Sie werden fragen, ob es sich lohnt, selbst einmal nachzuschauen. Ich werde ihnen antworten:

„Ein Leben an der Oberfläche ist ein Versuch, doch niemals ein Erfolg. Eine Möglichkeit, doch niemals eine Chance. Eine Entscheidung, doch niemals die richtige. Und nun lasst uns unsere Schaufeln holen und zusammen nach dem Himmel graben – denn dort oben habe ich keinen gesehen.“