Das Leben ist eines der schwersten…

Das Leben ist eines der schwersten“, sagte mein Opa immer mal wieder, als er noch lebte. Oft lächelte er dabei müde, manchmal seufzte er nur angestrengt. Wenn sein Blick zum Fenster hinaus ins Leben fiel, saß er dort, gedankenverloren in seinem Sessel, und schüttelte den Kopf. Immer wieder, über Jahre hinweg. Ich fragte mich, was er wohl dachte. Doch ihn – ihn fragte ich nicht.

Bittere Vergänglichkeit...

Nun sitze ich hier, auf meinem Stuhl in der Küche, auf der Kante meines Bettes, in dem Sessel meines Erkers – und schüttele den Kopf. „Das Leben ist eines der schwersten“, denke ich, während meine Augen mit starrem Blick ins Leere schweifen. Wenn ich glaube zu wissen, was er meinte, ermahne ich mich rasch: Ich habe noch immer wenig Ahnung von seinen Gedanken. Doch wenigstens weiß ich nun, was ich mir selbst damit sagen will.

Je älter mein Opa wurde, desto mehr erzählte er mir aus seinem Leben. Wenn er erst einmal zu reden begann, so war er kaum zu bremsen. 

Mit der Zeit wiederholten sich seine Geschichten, doch die Freude am Erzählen wurde jedes Mal stärker und spürbarer. Er ärgerte sich, wenn ihm ein bestimmtes Datum nicht mehr einfiel, zu dem sich seine Geschichte ereignete. Während mir nicht mehr einfällt, wann und wo ich zuletzt Urlaub machte, konnte er sich an Ereignisse erinnern, die über 50 Jahre in der Vergangenheit liegen. Sein Leben war so bewegt, wie er mich bewegte.

Geschichten vom Krieg

„Während des Krieges bin ich drei Mal abgesoffen“, erzählte er mir immer wieder. Einmal harrte er stundenlang im kalten Wasser aus, bis Rettung kam. Damals arbeitete er als Sanitäter bei der Marine und erlebte Dinge, die heutzutage nicht mehr vorstellbar sind. Er sah Bilder, die ich nicht mal im Traum erzeugen könnte.
An eine Geschichte erinnere ich mich noch sehr gut: Als er sich mit einem Kollegen an Bord unterhielt, sackte dieser plötzlich zusammen. Mein Opa bückte sich, wusste nicht, was los war und hielt seinen Kopf. Und dann – dann hatte er das Gehirn seines Kollegen in der Hand. Es war ein Kopfschuss, durch den er starb. Dieser Mann war nicht der Einzige, den mein Opa während des Krieges sterben sah. Als Sanitäter begleitete er viele in den Tod und ist diesem selbst oft von der Schippe gesprungen.
 
All diese Erlebnisse, die für ihn Realität bedeuteten, erzählte er nicht mit Wut und Trauer. Er erzählte sie mit Enthusiasmus, mit Feuer in den Augen, lebendig. So viel Furchtbares hatte er durchgemacht – und doch hatte ich das Gefühl, als leide er mehr unter dem Leben, das er nun führte. Ein ruhiges Leben als Pensionierter. Nach dem Krieg machte er Karriere, hatte eine hohe Stellung und viel Arbeit als Kommissar. Auch dort sah er Leichen, Elend, Kriminalität. Doch er war erfolgreich in seinen Aufgaben und zufrieden mit seinem Handeln.

Verlust von drei Kindern

Mit meiner Oma bekam er vier Kinder. Sein Sohn starb mit nur acht Jahren an Krebs. In den darauffolgenden Jahren musste er den Tod von zwei Töchtern durchleben. Er verlor drei von vier Kindern, bis er starb. Ich weiß nicht, warum er so oft und still den Kopf schüttelte. Ich weiß nur, dass er jedes Recht dazu hatte.
 
Wenn ich auf meiner Bettkante sitze und den Kopf schüttele, dann frage ich mich oft, welches Recht ich hierzu habe. Ich könne doch froh sein, nicht den Hauch einer Ahnung von dem zu haben, das für meinen Opa Realität bedeutete. Als er noch lebte, war ich nicht sehr redefreudig – denn ich wusste nicht, worüber ich sprechen sollte. Alles kam mir nichtig vor, nicht erwähnenswert, unaufregend. Und damit entschied ich nicht nur für mich, sondern auch für ihn: Er durfte nicht selbst darüber urteilen, was er an meinem Leben interessant fand, weil ich zuvor den Filter durchlaufen ließ.
 
Als ich 2015 aufgrund meiner psychischen Probleme in die Klinik ging und daraufhin mein Studium abbrach, sprach ich nicht mit ihm darüber. Er erfuhr vieles durch meine Mama und wir wussten, dass er mit der „Depression“ nicht viel anfangen konnte. Einfach, weil er in einer Zeit aufwuchs, in der psychische Erkrankungen kein bewusstes Thema waren. Als ich anfing, über meine Gedanken und meine Krankheit zu schreiben, gab ich ihm ein paar Texte meiner Webseite – das half ihm, wenigstens einen Teil meiner Gefühle nachvollziehen zu können. Ein intensives Gespräch darüber führten wir jedoch nie, weil ich Angst hatte, mich erklären zu müssen und nicht die richtigen Worte zu finden. Und auch, weil es mir zu emotional, zu nah gewesen wäre. Ich weiß, dass er traurig darüber war. Ich bin es auch.

„Das Leben ist eines der schwersten!“

Mein Status Quo ist freudlos. Ich kämpfe mit dem Leben, fühle mich überfordert und inkompatibel. Ich habe nichts zu erzählen und deshalb ist es still geworden. Ich langweile mich selbst. Ich bin unzuverlässig, habe mich sozial zurückgezogen, antworte nicht auf Nachrichten und verbringe den Großteil der Zeit damit, diese so schnell wie möglich vergehen zu lassen. Und ich versuche, mich nicht für diese Qual zu verurteilen – denn eigentlich… eigentlich müsste ich glücklich sein über das Leben, das ich führen darf. Doch das bin ich nicht. Diese Gedanken sind nicht fair und ich würde jeden außer mir ermahnen, bei Gefühlen von Recht und Unrecht zu sprechen. Dennoch muss ich aufpassen, nicht wütend auf mich zu werden, weil fast jede meiner Poren von Unglück zerfressen ist. Manchmal sehe ich Licht und manchmal kommt der Zug. Manchmal fehlt mir ein Mensch und manchmal fehlt er mir noch mehr. Doch es gibt auch Dinge, die funktionieren – und ich arbeite daran, dass ich diese aufrechterhalten kann.
 
Das Leben ist eines der schwersten“, sagte mein Opa immer wieder – und sage auch ich.