Bin ich depressiv? Und gibt es eine Trennlinie zwischen einem Stimmungstief und einer Depression?

Ich möchte mich heute mit zwei grundsätzlichen Fragen beschäftigen, die mir häufiger schon mal als Betroffene gestellt wurden und mit denen ich mich lange auseinandergesetzt habe.

Es geht um die Fragen: „Habe ich eine Depression?“ und „Kann man eine Trennlinie ziehen zwischen einer Depression und einem Stimmungstief?“

Ich habe schnell bemerkt, dass man diese Fragen nicht ganz so einfach mit einem JA oder NEIN beantworten kann, denn die Grenze zwischen einem Stimmungstief und einer Depression lässt sich nicht so eindeutig ziehen. Ich möchte dazu jedoch anmerken, dass ich mich bewusst NICHT mit wissenschaftlichen Erörterungen hierzu befasst habe, weil es mein Anspruch ist, aus eigener Erfahrung zu berichten. Geben wir in Suchmaschinen den Begriff „Depression“ ein, dann erhalten wir unzählige Artikel, die Auskunft über Symptome und Eigenschaften einer Depression geben. Hier jedoch möchte ich meine subjektive Wahrnehmung thematisieren und meine Sicht als Betroffene schildern, ohne unbewusst von der bereits bestehenden Informationsflut auf wissenschaftlicherer Basis im Internet beeinflusst zu sein.

Bin ich depressiv?

Ich leide unter einer Depression. Das weiß ich sicher, weil ich in der Tagesklinik die Diagnose erhalten habe – und die kam relativ unüberraschend. Natürlich bestand zuvor die Vermutung, sonst hätte ich mich nicht in Behandlung begeben. Die Gewissheit folgte dann durch die behandelnden Ärzte. Woran aber merkte ich, dass ich über einer „schlechten Laune“ oder ein Stimmungstief hinaus war?

Bin ich depressiv?

Im Endeffekt geht nichts über Offenheit zur Selbstreflexion: Ich habe begonnen, mich zu beobachten, mir Gedanken über meine vorrangigen Gefühle zu machen und meine alltäglichen Schwierigkeiten bewusst wahrzunehmen. Und das ist kein Prozess, der innerhalb weniger Tage vonstatten geht, sondern ein langsames Bewusstwerden, das viel Zeit braucht. Zurvor wusste ich zwar, dass ich wohl nicht der glücklichste Mensch der Welt sein würde, jedoch machte ich mir keine tiefergehenden Gedanken über meinen Gemütszustand und fragte nicht nach den Ursachen oder den Auswirkungen, die mein seelisch schlechter Zustand mit sich brachte. Es war ein schleichender Prozess bis hin zu der Erkenntnis, dass ich so, wie es mir zu diesem Zeitpunkt ging, nicht mehr alleine zurecht kam.

Die finale Entscheidung, zum Arzt zu gehen, traf ich ehrlicherweise nicht, weil ich so unglaublich bedacht und reflektiert war, sondern weil mich meine Situation dazu zwang: Nachdem sich meine Probleme häuften, was das Studium und meine Arbeitsmoral diesbezüglich betraf, kam ich nicht drumrum, mir über mich und meine Lebenssituation klar zu werden. Als ich dann eine Hausarbeit, zu der ich mich angemeldet hatte, einfach nicht abgab (und mit der ich nach vielen Stunden des Leeren-Blatt-Anstarrens noch nicht einmal angefangen hatte), habe dann auch ich begriffen, dass ich schleunigst Hilfe in Anspruch nehmen sollte.

Aus dieser Erfahrung ergeben sich für mich folgende Fragen, deren Antworten Hinweise auf eine Depression geben können:

depression

Inwiefern habe ich mich in der letzten Zeit verändert? Wie ist mein Schlaf? Kann ich mich konzentrieren? Wie steht es um meinen Antrieb? Habe ich Selbstzweifel? Bin ich lustlos? Habe ich noch Freude an meinen Hobbies und meinen Freizeitaktivitäten? Stehe ich dauerhaft unter Stress? Bin ich oft grundlos angespannt? Habe ich Probleme, mich zu entscheiden? Ziehe ich mich aus meinem sozialen Umfeld zurück? Fühle ich mich kraftlos und abgeschlagen? Leide ich unter körperlichen Beschwerden, deren Ursache nicht ersichtlich ist? Leide ich unter Ängsten? Habe ich oft einen unangenehmen Kloß im Hals? Umgibt mich eine ständige Unruhe? Habe ich Zukunftsängste? Leide ich noch immer unter vergangenen Erfahrungen?

Dies sind Fragen, die ein erster Anstoß sein können, sich selbst genauer zu beobachten und sich tiefergehende Gedanken über den Status Quo des Seelenzustands zu machen.
Die wichtigste Frage ist meines Erachtens aber, inwieweit das eigene Seelenleben den normalen Alltag über einen längeren Zeitraum beeinflusst. Sobald die Lebensqualität oder sogar die Lebenstauglichkeit unter den psychischen Belastungen leidet, ist die Zeit gekommen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen!

Es ist also ungemein wichtig, sich selbst zu beobachten und wahrzunehmen, was für Belastungen einem welche Schwierigkeiten bereiten und inwieweit sich diese auf das Leben auswirken. Sollte einem das zunächst schwerfallen oder ist man sich unsicher, was die realistische Selbsteinschätzung betrifft, dann macht es Sinn, das Umfeld zu fragen! Wie nehmen einen enge Freunde oder Familienangehörige wahr? Haben sie Veränderungen bemerkt, die ihnen Sorgen bereiten? Es kann viel bringen, hier selbst die Initiative zu ergreifen und nach Rückmeldung zu bitten, denn von alleine kommen die Menschen nicht immer auf einen zu – besonders nicht, wenn es um den seelischen Zustand und damit ein leider noch immer empfindliches Thema im Austausch mit anderen geht. Und nebenbei gesagt: Wenn ich nicht Menschen in meinem Umfeld gehabt hätte, die mir Rückmeldung gegeben haben und mit denen ich mich über mein Befinden austauschen konnte, hätte ich mich wahrscheinlich bis heute noch nicht in Therapie begeben! Denn auch ich ging mit diesem Thema nicht so offen um, wie ich es heute tue.

Psychisch kranke Menschen sind nicht irre!

Psychisch kranke Menschen sind nicht irre!

Nein, irre sind wir nicht. Wir sind auch nicht „normal“ – allerdings nur aus dem Grund, dass ich das Wort nicht ausstehen kann. Denn was bedeutet es schon, normal zu sein?
Ich habe allerdings auch schon viele Dokumentationen gesehen, in denen versucht wird, ein leider sehr beliebtes Vorurteil aus der Welt zu schaffen: Psychiatrie? Da gehören doch nur die Bekloppten hin. 

Die ticken doch nicht sauber. Psychos. Aufgrund dieser allgemein verbreiteten Einschätzung, wenn es um die Psychiatrie oder psychiatrische Angelegenheiten geht, greift ein Schutzmechanismus bei vielen Betroffenen, die sich bisher noch nicht in Behandlung begeben haben. Was sollen denn die anderen denken? Ich bin doch nicht verrückt. 
Kein Wunder, dass die Depression nicht vollends aus ihrer Tabu-Zone kommt, wenn ein solches Unbehagen noch immer keine Ausnahme geworden ist. Ich war in einer psychiatrischen Tagesklinik und habe dort insgesamt an die 100 psychisch kranke Menschen kennengelernt. Und die waren genauso, wie jeder andere auch – eben nur, dass sie eine Krankheit hatten, die sich auf ihr seelisches Wohlbefinden, ihre Lebenslust, ihren Antrieb etc. auswirkte. Berührungsängste sind Folge von Unwissenheit, falschen Annahmen und verzerrten Wahrnehmungen. Wir sind nicht das in der Ecke kauernde, schwarz gekleidete, unzurechnungsfähige Mädchen, das uns vor den Latz geknallt wird, wenn wir bei der Bildersuche von Google „Depression“ eingeben. Der Irrenstempel, der sich oftmals zeigt, sobald man nur das Wort Psychiatrie hört, ist demnach völlig unbegründet, denn es handelt sich in den meisten Fällen um Menschen, die einfach an für das äußere Auge unsichtbarer Stelle erkrankt sind.

Also, liebe Leute, denen es nicht gut geht: Bitte lasst euch doch helfen, wenn ihr glaubt, dass ihr an Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung leiden könntet. Lasst euch nicht von einer noch immer vorherrschenden gesellschaftlichen Skepsis und Unwissenheit gegenüber psychischen Krankheiten eine Möglichkeit verbauen, durch die es euch besser gehen kann. Wenn ihr Zahnschmerzen habt, dann geht ihr zum Zahnarzt. Wenn ihr Rückenschmerzen habt, dann geht ihr zum Orthopäden. Warum aber leiden so viele still und heimlich, wenn es ihrer Seele nicht gut geht? Denn auch dafür gibt es erste Anlaufstellen: Der Neurologe oder der Psychiater. Und auch der Hausarzt kann eine erste Möglichkeit sein, um weitere Schritte einzuleiten.

Besitzt nicht jeder ein Fünkchen Depression?

Ich habe mir auch Gedanken dazu gemacht, ob nicht jeder einen Funken Depressivität in sich trägt. Und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass das nicht so ist.
Jeder kennt sicher einige der typischen Symptome einer Depression, sei es Antriebslosigkeit, ein negatives Gefühlschaos, Lustlosigkeit o.a. Die Depression definiert sich durch viele Eigenschaften, die wir alle in unserem Leben erfahren und die zum ganz normalen Lauf gehören.

Besitzt nicht jeder ein Fünkchen Depression?

Niemandem geht es dauerhaft gut, das geht gar nicht. Und genau das macht eine Abgrenzung so schwierig: Die meisten von uns wissen nicht, wie es sich anfühlt, Krebs zu haben. Trauer, Wut, Selbstzweifel, Lust- und Antriebslosigkeit hingegen kennen wir beispielsweise alle. Mit dem Unterschied, dass bei einer Depression Dauer und Tragweite, also die Ausprägung der Symptome, wesentlich heftiger ist, als bei einem vorübergehenden Stimmungstief. Sie beeinflusst unsere Lebensqualität. Und sie nimmt uns oft etwas ungemein Wertvolles: Hoffnung und die Fähigkeit, an das Gute zu glauben.

Die Depression darf NICHT den Anspruch auf Lebenszugehörigkeit bekommen und damit zur Selbstverständlichkeit werden!

Wir alle sind in bestimmten Situationen auch mal pessimistisch. Wir können alle mal schwarzmalen, wenn es uns gerade nicht so gut geht. Wir können trauern, wenn wir jemanden verloren haben oder perspektivlos sein, wenn wir gerade einen Lebensabschnitt beendet haben. Das sind keine depressiven Spritzer. Das sind Lebensmerkmale. Und dann darf ein Stimmungstief auch mal ein paar Wochen anhalten, wenn es durch äußere Umstände ausgelöst wurde oder wenn es die jeweilige Lebenssituation hervorruft. Das zeigt doch nur, dass es das perfekte Leben einfach nicht gibt und dass das Streben nach Perfektion nur ein sinnloses Unterfangen bleibt.
Und genau an dieser Stelle möchte ich die Trennlinie ziehen: Zwischen der Selbstverständlichkeit eines Stimmungstiefs, das das Leben nun mal ab und zu mit sich bringt, und der Krankheit Depression, die vielleicht zur Volkskrankheit geworden ist, aber nicht den Anspruch auf Lebenszugehörigkeit besitzt. Denn wenn man diese Grenze nicht zieht, dann kommt es genau dazu, warum die Depression als Krankheit kein vollends anerkannter Teil des öffentlichen Verständnisses ist: Weil jeder doch mal depressiv ist. Weil es jedem mal schlecht geht. Und weil man sich nicht so anstellen soll.

Um die Depression als Krankheit wahrnehmen und sie in ihrer ganzen Ernhaftigkeit erfassen und behandeln zu können, MUSS eine Trennlinie gezogen werden. WO die Linie zu ziehen ist, ist dabei gar nicht mal so relevant: Das können Ärzte entscheiden, abhängig vom individuellen Leidensdruck. Wichtig ist, dass es sie gibt und dass dieses Verständnis auch in die Öffentlichkeit kommuniziert wird, um Fälle wie den Suizid von Fußballer Andreas Biermann zu verhindern, der sich nach dem Freitod von Robert Enke mit seiner Depression an die Öffentlichkeit wandte. Seit diesem Schritt fühlte er sich alleingelassen und riet allen depressiven Fußballern davon ab, ihre Erkrankung öffentlich zu machen. Biermann nahm sich daraufhin 2014 das Leben.

Bin ich depressiv? Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden.

Abschließend noch mal zurück zu der Frage, ob man sich in einem Stimmungstief befindet oder an Depressionen leidet: Neben Selbstbeobachtung und der Einschätzung von Angehörigen sollte man sich letzten Endes auf das eigene Gespür verlassen. Wenn man die Depression als das begreift, was sie ist, und die Vermutung hat, an ihr erkrankt zu sein, dann lohnt sich ein Besuch beim Arzt in jedem Fall. 

Welche Behandlung folgt, wird dann im weiteren Verlauf besprochen – es gibt von Medikamenteneinnahme über ambulante Psychotherapie bis hin zum (teil-)stationären Klinikaufenthalt eine Vielzahl an Möglichkeiten, eine Depression zu behandeln und hängt individuell von der Schwere der Belastungen und vom persönlichen Leidensdruck ab. Aber wie auch immer die Zukunft aussehen mag: Genügend Anlaufstellen, sich Hilfe zu holen, gibt es in jedem Fall!