Ein guter Tag, verrückt zu werden
Heute ist ein guter Tag, um verrückt zu werden, erwische ich den Gedanken an den Toren des Bewusstseins zu mir sprechen. Verrückt zu werden ist in Anbetracht der Tatsache, dass viele andere Lebensstrategien bisher wirklich kläglich gescheitert sind, vielleicht die klügste meiner Möglichkeiten. Und seien wir mal ehrlich:
Beängstigend sind nicht die Verrückten dieser Welt. Es ist die Welt selbst, die uns verrückt werden lässt.

Verrücktsein als Abweichung von der Norm
 
Der Kaffee schmeckt besser als sonst. Er schmeckt besser, weil ich ihn nicht, wie üblich, mit der laktosefreien Milch vermischte. Ich habe keine Laktoseintoleranz und doch nahm ich jahrelang jene Milch, von der ich dachte, sie sei schonender für den Magen- und Darmtrakt. Heute bin ich ver-rückt – was eigentlich nur bedeutet, dass ich von meiner Routine abgewichen bin. Es ist gut, verrückt zu sein. Zumindest dann, wenn ich nicht gleich eilen muss, um mich meiner Milch im unangenehmen Stil zu entledigen.
 
Wenn wir jemanden als verrückt bezeichnen, dann meinen wir damit oftmals, jemand hätte „einen Knall“, „nicht alle Tassen im Schrank“ oder „den Schuss nicht gehört“. Und das wiederum bedeutet auch nichts anderes, als abzuweichen von einer Norm, die wir Menschen selbst erschaffen haben. Bestimmten Regeln und Konventionen nicht anzugehören, die sich in unserer Gesellschaft etabliert haben. Wie auch immer das im Einzelfall aussehen mag. Verrückt sind die, die in der Unterzahl sind. Ist es schlecht, zu den Wenigen zu gehören?
 
William Shakespeare sagte damals:

Besser, ich wär‘ verrückt.
Dann wär‘ mein Geist getrennt von meinem Gram, und Schmerz in eiteln Phantasien verlöre Bewußtsein seiner selbst.

Während das Verrücktsein schon lange kein eindeutiger Begriff mehr ist, bezieht sich Shakespeare in seinem Zitat auf die Geisteskrankheit. Auf das Verrückt, bei dem dein Umfeld davon ausgeht, etwas funktioniere nicht richtig in deinem Oberstübchen. Auf den Wahnsinn.
Und auch ich frage mich manchmal, ob der Wahnsinn nicht einfach eine intelligente Art der Flucht aus der Realität ist. Wenn Realität Schmerz bedeutet, ist das Verrücktsein dann nicht schützende Medizin? Ein tröstlicher Gedanke. Vielleicht ist es aber auch verrückt, Heilsames im Irrsinn zu suchen. Oder einfach Ausdruck von Verzweiflung.
 
Das Verrücktsein als Wahnsinn macht so gesehen den Anschein, als müsse man erst krank werden, um sich gesund zu fühlen. Als sei der Irrsinn eine gute Strategie des Geistes, dem Leben und seinen Eigenheiten standhalten zu können. Ein trauriger Widerspruch, der die Verzweiflung manches Verstandes offenbart. Gleichwohl sollte uns das auch bewusst machen, dass die Norm kein Synonym für „gut“ oder „richtig“ ist. Was würde sich der Mensch auch anmaßen – ist er doch selbst für die Existenz jener Norm verantwortlich. Oder?

Salvador Dalí sagte einst: "Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Verrückten ist der, dass ich nicht verrückt bin."

Viele nehmen es mit dieser Norm sehr genau. Zum Beispiel dann, wenn sie Andersartigkeit bestrafen. Es scheint nicht immer erstrebenswert, zu ver-rücken, wenn die Folge dieser Abweichung Ausgrenzung und Abwertung ist. Wenn die Entscheidung darüber, wen man liebt, auch gleichsam das Urteil bedeutet, wie viel Wert man in der Gesellschaft hat, dann fange ich an, den Wahnsinn und seinen Sinn besser zu verstehen. Es fürchtet mich der Gedanke, in einer Welt zu leben, in der es immer und immer wieder darum geht, bewertet und verglichen zu werden, klüger zu sein, schneller zu sein, besser zu sein als der andere, um damit den persönlichen Wert für die Menschheit zu bestimmen.
Auf der anderen Seite scheint es hip, etwas crazy zu sein. So ein bisschen mehr bekloppt und ein bisschen weniger „normal“. Zumindest dann, wenn man an der „richtigen“ Stelle abgewichen ist – denn das wiederum ist ausschlaggebend dafür, ob das Abweichen von der Norm gesellschaftlich zumindest überwiegend akzeptiert wird oder nicht. Überlegen wir uns also genau, wann und wie und wo wir verrückt werden und was das im Zweifelsfalle für uns bedeutet. Denn machen wir uns nichts vor: Wir leben hier, wir leben jetzt und wir leben unter genau diesen Umständen. Und da wir kein Veto für ein anderes Leben haben, keine andere Welt, in die wir wechseln können, müssen wir hinnehmen oder eben verrücken. Auf welche Art und Weise und mit welchen Konsequenzen auch immer.

Verrücktsein als Möglichkeit zur Veränderung

Ob ein Mensch verrückt ist, hängt letzten Endes also auch immer davon ab, wen man fragt. Ich mag die Idee, dass jedes Verrücktsein in seiner einfachsten Form erst einmal bedeutet, von einer Norm abzuweichen – nicht mehr und nicht weniger, fernab von der Komplexität, die sich auftut, wenn man weiter in die Tiefen der Philosophie eintaucht. Ich mag die pure Wortwörtlichkeit des Begriffes, denn im Ver-rücken schwingt doch auch etwas Aktives mit, eine Handlung, eine Bewegung als Gegensatz zu Lethargie und Stillstand. Und Aktivität ist es, die den Weg zur Veränderung ebnet. So gesehen scheint es doch eine lohnenswerte Möglichkeit, zu verrücken, wenn man sich in einem quälenden Zustand befindet, der anders werden soll.
 
Heute ist ein guter Tag, um verrückt zu werden, dachte ich und trank meinen Kaffee anders als sonst. Ja, vielleicht ist er das.
Ganz bestimmt aber ist heute ein guter Tag, um zu verrücken.