Die (Un-)Logik der Depression

Es war Donnerstag. Um 7:45 Uhr klingelte der Wecker. Inzwischen gebe ich mir keinen zeitlichen Puffer mehr, um aufzustehen. Druck hilft mir, in Gang zu kommen. Manchmal.

Fern von Logik und Verständnis

Heute nicht. Dieser Tag war viel mehr eine Aneinanderreihung von Dingen, die nicht funktioniert haben. Das, was sich dabei in meinem Kopf abspielte, ergibt augenscheinlich nicht den Hauch eines Sinns. Deshalb finde ich es wichtig, gerade diese inneren Konflikte zu dokumentieren – eben weil ihr Inhalt und ihre Ausprägung auf den Alltag so schwer sind, verständlich bzw. nachvollziehbar nach außen zu kommunizieren.
Eine Erkrankung, das müssen wir verstehen, hat nicht immer etwas mit Logik zu tun. Es gibt Dinge, die sich nicht mal eben begreifen lassen. Wichtig ist, dennoch zu akzeptieren, dass es Probleme gibt, die sich nicht so einfach entziffern und durchschauen lassen – sowohl für Betroffene als auch für Angehörige.
An diesem besagten Donnerstag lag ich also so rum, in meinem Bett. Ich wusste, dass mein Tagesplan Aktivität von mir forderte. Ich hatte einen Termin, der immer näher rückte, doch diese Tatsache allein reichte nicht aus, um aufzustehen. Stattdessen führten ein paar Synapsen in meinem Kopf eine handfeste Diskussion darüber, was als nächstes passieren sollte. Je später es wurde, desto unzufriedener war ich mit der Situation: Ich hatte ein schlechtes Gewissen, nicht aufzustehen, doch ich wusste auch nicht, warum es nicht funktionierte.
Zudem musste ich pinkeln. So dringend, dass mir völlig klar war, es würde bald anfangen zu schmerzen. Doch die Toilette schien kilometerweit entfernt, genau wie die Realität. Denn was sollte real sein an dieser Situation? Sie ließ sich nicht mehr bewusst greifen, entglitt mir immer wieder durch die Finger. Ich war kaputt, müde und energielos.

Gedanken vs. Körper vs. Realität

Ich erinnere mich, wie ich mir bewusst machte, dass sich meine Gefühle bessern würden, hätte ich erst einmal das Haus verlassen. So ist es meistens. Sollte ich hingegen liegen bleiben, verpasste ich einen wichtigen Termin. Und das – das war mir klar – würde Konsequenzen haben. Solche, die ich nicht gebrauchen konnte. Dafür aufzustehen, das schaffte ich an diesem Tag dennoch nicht.

Die Diskussion, die verschiedene Teile in mir führten, dauerte insgesamt fünf Stunden. Ich durchbrach diesen Teufelskreis nur, weil ich nicht ins Bett machen wollte. Denn das hätte bedeutet, dass ich mich nicht wieder hätte hineinlegen können… Eine schockierende Wahrheit, die ich nicht verstehe, die mir aber wenigstens bewusst ist.

Warum das, verdammt noch mal, nicht für jeden nachvollziehbar ist? Liegt auf der Hand, oder? Ich kann doch nicht von anderen Verständnis erwarten, das ich selbst nicht aufbringen kann. Das, was sich abgespielt hat, ist so abstrus, so fern jeder Logik, dass ich es selbst nicht verstehe – obwohl ich Protagonistin dieses traurigen Schauspiels war. Es fühlte sich an, als würde ich die Kontrolle sowohl über meine Gedanken als auch über meinen Körper verlieren. Zumindest kann ich mir nicht erklären, warum sich mein Bein nicht seitwärts aus dem Bett bewegte, als ich es darum gebeten habe.
 
Die Gefühle, die mich an diesem Morgen begleiteten, spielten die Hauptrolle in meinem persönlichen Drama. Sie waren kaum auszuhalten und füllten den Raum mit Lethargie und Verzweiflung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich aktiv werde, war hoch – und doch erschien es mir unmöglich, mich zu bewegen. So als wäre ich gefesselt, als würde ich keine Luft mehr bekommen aufgrund des Drucks, der sich schwer auf mich legte. Jedes Wort, das ich verwende, um diesen Zustand zu beschreiben und greifbar zu machen, würde seinen Zweck nicht annähernd erfüllen.

Außenwirkung – ein halboffener Umgang

„Wo warst du gestern?“, fragte man mich am nächsten Tag. Und obwohl ich einen offenen Umgang mit meiner Erkrankung pflege, habe ich diese Frage nicht wahrheitsgemäß beantwortet. Nicht, weil ich mich dafür schämte, sondern weil ich keine Energie hatte, etwas zu erklären, das mir doch selbst so fremd erschien.
Zudem ist es so, dass ich mir die Depression nicht ins Gesicht tätowiert habe. Damit meine ich: Ich laufe nicht (mehr) durch die Gegend und lebe meine inneren Gefühle jederzeit sichtbar aus. Die letzten Jahre habe ich gelernt, mein Innenleben in den meisten Situationen auch innen zu lassen. Nicht, um zu verdrängen, sondern einfach, weil es mir mit dem privateren Umgang (außerhalb des Internets zumindest) besser geht. Und auch, weil dieser den Menschen in meiner Umgebung leichter fällt. Früher konnte ich das nicht: Ich weinte viel und stieß andere Menschen fern, weil ich sie, so weiß ich heute, natürlich auch mit der Situation überforderte. Das passierte nicht absichtlich, doch so weitergehen konnte es auch nicht. Deshalb war es harte Arbeit und dauerte sehr lange, bis ich zumindest nach außen hin stabiler wirkte.

„Das sieht man dir gar nicht an“, ist eine Reaktion, die ich seitdem öfter zu hören bekam, wenn ich doch mal über Schwierigkeiten und Probleme erzählte. Das ist okay. Ich finde es gut, dass ich einen Weg gefunden habe, einen Alltag zu führen, der einen Fokus auf meine Person zulässt, ohne dass dieser ständig durch meine Erkrankung definiert ist oder überdeckt wird. Allerdings muss ich bei einem halboffenen Umgang eben auch damit rechnen, öfter mit Unverständnis konfrontiert zu werden. Denn manche Informationen lassen sich für Bekannte auch schlechter vereinbaren mit der Person, die ich nach außen trage.

Das hat viel mit den Erwartungen und Vorstellungen von Verhaltensweisen und Äußerlichkeiten zu tun, die viele von depressiven Menschen haben. Die persönliche Wahrheit scheint sehr streng an das geknüpft zu sein, was man sieht. Sei es ein Blut- oder Röntgenbild, eine Träne oder ein Gesichtsausdruck. Das ist „menschlich“, auch wenn ich das Wort nicht mag. Deshalb ist es eben auch so schwierig, Aufklärung hinsichtlich psychischer und in gewisser Weise unsichtbarer Erkrankungen wirksam zu betreiben. Aber das ist ein Fass, das ich bereits in anderen Beiträgen aufmachte.
 
Ich glaube, dass psychische Erkrankungen niemals an den Punkt gelangen, an dem sie wie ein gebrochenes Bein behandelt werden. Einfach, weil Gefühle so individuell sind und sie sich manchmal außerhalb des Logikbereichs austoben. Deshalb habe ich mir abgewöhnt, immerzu Verständnis zu erwarten für eben solche Situationen, die jener ähneln, die ich hier beschrieben habe. Nur auf Akzeptanz – auf die verzichte ich nicht.
 
Und die Moral von der Geschicht‘: Mir fällt kein guter Reim ein…