Die Schönheit des Frühlings
Momentan überfällt mich die große Lust, zu fotografieren. Deshalb fragte ich mich letztens, ob nicht das Frühlingswetter Inspiration sein könnte. Aber wenn das so wäre, dann hätte sich die Frage bereits erübrigt. Inspiration kommt nicht, indem man nach ihr fragt. Sie kommt unaufgefordert und spontan. Wenn man aber Schwierigkeiten hat, das Schöne in den Dingen zu erkennen, dann fällt es auch schwer, sich inspirieren zu lassen.
Der Frühling kommt - und mit ihm seine Schönheit
Also bin ich nach Hause gefahren, stöberte in alten Texten und Fotografien und machte mir Gedanken darüber, warum es mir so schwer fällt, Inhalte im dafür prädestinierten Frühling zu finden. Viele alte Bilder, die ich mir anschaute, gefielen mir. Und genau diese Bilder hätte ich auch an diesem tollen Frühlingstag finden können. Es schien mir, als könnten meine Augen die Farben nicht in ihrer Fülle wahrnehmen. Doch die Farben auf den Bildern, die sah ich klar und deutlich.
Die Resistenz für das Schöne in der Wirklichkeit - Flucht durch visuelle Verfälschung
Der Begriff Schönheit ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit lebensbejahenden Momenten, Wahrnehmungen, Situationen oder Motiven, die schön sind, weil sie die eigene Realität positiv bereichern. Da Schönheit immer subjektiv ist, sieht der eine sie demnach in einem trüben, nebligen und verregneten Morgen, ein anderer vielmehr in der untergehenden Abendsonne.
Manipulationspotential durch Fotografie - Gestaltung einer ganz eigenen Wirklichkeit
Wenn ich diese Weihnachtskugel (die jetzt natürlich herzlich wenig mit Frühling zu tun hat) wäre, dann hätte ich dem Fotografen gesagt, er soll doch nächstes Mal bitte die Realität weglassen. Und wenn er sich daran hält, dann hätte sein nächstes Bild so ausgesehen:
Das ist eine ganz bestimmte Perspektive, für die sich jeder gebückt und ganz nah vor das Motiv hätte stellen müssen. Wenn ich dann noch die Farben intensiviere, dann entsteht ein Bild, das im Gegensatz zum vorherigen noch weniger real, dafür aber sehr schön ist, oder nicht?
Doch auch unbearbeitet stellen Fotografien nie vollends die Realität dar – das ist einfach nicht möglich. Ein Foto ist immer ein Ausschnitt einer individuellen Interpretation. Realität ist so gesehen eine Frage des Blickwinkels: Bereits die Wahl eines Ausschnitts lässt eine andere Wirklichkeit entstehen. Dem Fotografen stehen dabei unendlich viele Möglichkeiten zur Verfügung, die Realität zu verändern – alleine schon durch die Einstellungen der Kamera oder den Winkel, aus dem er das Foto schießt. Sobald das Bild – ob leicht bearbeitet oder stark manipuliert – aber in die subjektive Realität eingefügt werden kann, so ist sie zumindest aus Sicht des betrachtenden Fotografen ein Stück weit Abbild seiner visuellen Wirklichkeit.
Bilder als Möglichkeit, Farben wiederzugeben, die verdeckt sind vom grauen Schleier der Depression
Der Frühling leitet nun also die sonnige Jahreszeit ein, die Blätter bekommen wieder ihre Farben, die Blumen beginnen zu blühen. Aber wenn ich seine Inhalte nicht so wahrnehme, wie es der allgemeine Tenor vorgibt, dann gibt er mir auch keine Inspiration zur Kreativität. Und dann ist es nicht verwunderlich, dass ich kein Motiv gefunden habe, in dem ich die Schönheit erst erkannt hätte, wenn sie in ihrer einseitigen, manipulierten Visualität vor mir gestanden hätte.
Fotografie als Mittel, um das Schöne festzuhalten - nicht, um Schönheit erst entstehen zu lassen
Das mag deprimierend klingen. Aber das ist nun mal ein häufiges Symptom der Depression – ein grauer Schleier, der Dinge farblos und damit gleichgültiger erscheinen lässt. Man ändert Dinge jedoch nicht, indem man sie deprimierend findet. Man ändert nichts durch Gedanken. Ich kann sagen „Oh Gott, das ist ja furchtbar“ und mich dann wieder der alltäglichen Unzufriedenheit widmen – so wie es viele machen werden. Auch ich. Weil es eben harte Arbeit ist, aus diesem Gedanken-Gefängnis auszubrechen.
Wenn man die Fotografie in diesem Kontext sieht, dann handelt es sich nicht nur um das Schießen eines Fotos. Es handelt sich um Wirklichkeit und Verzerrung. Es geht um Kontrolle, um Einfluss, um Wünsche und um Selbstbestimmung.
Natürlich ist es heutzutage so, dass fast jeder Gebrauch von Bildbearbeitungsprogrammen macht, um Fotos zu perfektionieren und somit etwas zu schaffen, das viel zu glatt ist, um real zu sein. Doch nicht bei jedem bedeutet das dann auch gleich Flucht – es wäre ja schlimm, wenn Fotografie für alle eine Form der Realitätsverweigerung oder ein Ausweg aus eben jener wäre. Dennoch geht es meistens darum, etwas zu verändern. Zu optimieren. Zu Verschönern.
Das Schöne in der Realität erkennen lernen
Ein Bild ist also aus objektiver Sichtweise immer eine Verfälschung von Wirklichkeit. Und auch subjektiv lässt es sich nur in die eigene Realität eingliedern, wenn es aus der tatsächlichen Wahrnehmung des Moments entsprungen ist. Wenn es wahrhaftiger Teil der Wirklichkeit war und wenn es reale Erinnerungen weckt. Und dann ist es auch unbedeutend, wie sehr das Foto im Nachhinein manipuliert wurde: