Die Schönheit des Frühlings

Momentan überfällt mich die große Lust, zu fotografieren. Deshalb fragte ich mich letztens, ob nicht das Frühlingswetter Inspiration sein könnte. Aber wenn das so wäre, dann hätte sich die Frage bereits erübrigt. Inspiration kommt nicht, indem man nach ihr fragt. Sie kommt unaufgefordert und spontan. Wenn man aber Schwierigkeiten hat, das Schöne in den Dingen zu erkennen, dann fällt es auch schwer, sich inspirieren zu lassen.

Der Frühling kommt - und mit ihm seine Schönheit

Als sich der Frühling in den letzten Wochen durch milde Temperaturen und warme Sonnenstrahlen langsam aber sicher bemerkbar machte, tat das auch etwas mit meiner Stimmung. Es ist wahrlich ein Unterschied, wenn man vom Tageslicht geweckt wird, anstatt vom prasselnden Regen an der Fensterscheibe oder vom trüben Grau, das das Zeitgefühl vollends in die Irre treibt. Die Sonne animiert mich, wenn auch nur in kleiner Dimension. Deshalb schaute ich mir kürzlich, als ich auf dem Heimweg war, die Gegend einmal genauer an und durchforstete sie nach schönen Fotomotiven. Und ich wurde unruhiger und wütender, als ich bis zuletzt nichts entdeckte. Ich sah Menschen, die zu den Eisdielen stürmten, und Sonnenstrahlen, die sich in den Fensterscheiben brachen. Der Frühling ist nur so weit eine Inspiration für mich, als dass ich weiß, dass er eine sein sollte. Doch als ich Motive suchte, über die es sich zu schreiben lohnt oder die ich fotografieren könnte, habe ich nichts in ihm gesehen.

Also bin ich nach Hause gefahren, stöberte in alten Texten und Fotografien und machte mir Gedanken darüber, warum es mir so schwer fällt, Inhalte im dafür prädestinierten Frühling zu finden. Viele alte Bilder, die ich mir anschaute, gefielen mir. Und genau diese Bilder hätte ich auch an diesem tollen Frühlingstag finden können. Es schien mir, als könnten meine Augen die Farben nicht in ihrer Fülle wahrnehmen. Doch die Farben auf den Bildern, die sah ich klar und deutlich.

Bilder berührten mich schon immer mehr als die Realität. Bei ihr nämlich hatte ich zumeist das Gefühl, sie würde mir sofort wieder entwischen, wenn ich sie mochte. Ich konnte sie nicht halten. Und wenn sie mir nicht gefiel, dann klammerte sie sich an mir fest und ich wusste nicht, wie ich sie ändern sollte. Ihre Schönheit entdeckte ich selten, viel öfter zeigte sie mir ihren nackten Rücken – und der war mächtig und abweisend.
Bilder hingegen kann ich verändern. Ich kann sie operieren und nach meinen Wünschen gestalten. Wenn ich möchte, dann kann ich ihnen alle Farben nehmen – und es stört sie nicht. Ich kann aber auch Farbakzente setzen. Ich kann ihnen mehr Vielfalt geben. Der Farblosigkeit trotzen. Wenn ich das möchte. Es ist meine Entscheidung, meine Bauanleitung. Und wenn mir ein Detail nicht gefällt, dann entferne ich es eben.

Die Resistenz für das Schöne in der Wirklichkeit - Flucht durch visuelle Verfälschung

Der Begriff Schönheit ist in diesem Kontext gleichzusetzen mit lebensbejahenden Momenten, Wahrnehmungen, Situationen oder Motiven, die schön sind, weil sie die eigene Realität positiv bereichern. Da Schönheit immer subjektiv ist, sieht der eine sie demnach in einem trüben, nebligen und verregneten Morgen, ein anderer vielmehr in der untergehenden Abendsonne.

Wenn man so will, dann bedeutet Fotografie für mich auch eine Art Flucht. Flucht vor dem Unausweichlichem. Sie kann also nur temporär sein, aber ich bin erst einmal weg. Weg von der Wahrheit, hin zur Imagination einer Traumwelt. Diese ist nicht unmöglich, aber eben sehr weit entfernt.
Ich habe so gesehen eine Resistenz für das Schöne in der Wirklichkeit entwickelt, solange sie nicht direkt vor mir steht und laut „Hier bin ich!“ schreit – wie zum Beispiel eine untergehende Sonne, die den Himmel rot einfärbt. Ich habe mich folglich der Realität abgewandt und eine Distanz aufgebaut, weil ich ansonsten das Gefühl gehabt hätte, ihr schutzlos ausgeliefert zu sein. Weil ich nicht die Kontrolle besaß, sie zu meinen Wünschen zu verändern. Und weil ich auch keine Idee hatte, wie ich am besten hätte vorgehen können, um selbst die Zügel in den Händen zu halten.
 
Der Vorteil der Fotografie liegt für mich in der Tatsache, dass ich Motiv, Perspektive, Lichteinfall, Farben und Details im Großen und Ganzen selbst bestimmen und dadurch meine eigene Wahrheit modellieren kann. Ich kann die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes ins richtige Licht rücken. Das bedeutet, dass ich Schönheit selbst kreieren und alles ausschließen kann, was ihr die Farben wieder nehmen würde. Und somit komme auch ich in den Genuss, sie häufiger zu erleben.
Doch wehe dem, der ein Foto von mir machen will. Das ist mir schon wieder viel zu viel Realität, über die ich keinen Einfluss habe. Es ist eine Perspektive, die ich nicht wählen kann. Der Auslöser wird zu einem Zeitpunkt betätigt, den ich nicht bestimmen kann. Und ich will meine Realität selbst manipulieren können.

Manipulationspotential durch Fotografie - Gestaltung einer ganz eigenen Wirklichkeit

Der Frühling hat seinen Anteil daran, dass ich empfänglicher werde für Schönheit. Oder zumindest, dass er Begehren und Sehnsucht nach ihr auslöst. Und ich finde sie dann in Bildern, die ich mache und die ich verfälschen kann.

Wenn ich diese Weihnachtskugel (die jetzt natürlich herzlich wenig mit Frühling zu tun hat) wäre, dann hätte ich dem Fotografen gesagt, er soll doch nächstes Mal bitte die Realität weglassen. Und wenn er sich daran hält, dann hätte sein nächstes Bild so ausgesehen:

Das ist eine ganz bestimmte Perspektive, für die sich jeder gebückt und ganz nah vor das Motiv hätte stellen müssen. Wenn ich dann noch die Farben intensiviere, dann entsteht ein Bild, das im Gegensatz zum vorherigen noch weniger real, dafür aber sehr schön ist, oder nicht?

Auch, wenn ich dieses Tier im Zoo Osnabrück gewesen wäre, hätte ich mich lautstark beschwert, wenn ich ein solches Bild von mir im Internet gefunden hätte. Da ich aber eben nicht dieses Tier bin, bedeutet das Bild für mich visuelle Schönheit, die mir in dem Moment entwischt ist. Ein Glücksfall. Nicht die komplexe Wirklichkeit, weil dieser Bruchteil einer Sekunde zu eindimensional, als ein kleiner Teil eines großen Ganzen, wiedergegeben wird. Die Realität befindet sich nicht in einem Standbild, sondern in einer Mixtur aus vielen Faktoren, wie aneinandergereihten Bildern, der Gefühlslage zu diesem Zeitpunkt, den Geräuschen, die diese Situation umgaben. Dieser von mir eingefangene Moment macht Spaß, reduziert sich aber auf die Visualität eines kurzen Moments, den ich nicht einmal bemerkt habe. Die persönliche, ganzheitliche Realität mag also anders ausgesehen haben.
 
Bilder im Allgemeinen machen Spaß, wenn ich das will. Sie verschönern die Wirklichkeit. Sie nehmen ihr die Farben oder geben ihr welche. Sie zeigen Details, die plötzlich etwas anderes bedeuten, als zu dem Zeitpunkt, als ich sie fotografierte. Ich kann retuschieren und zurechtschneiden, sodass eine Komposition an Dingen entsteht, die ich gerade sehen möchte. Eine störende Fliege lässt sich mit wenig Aufwand entfernen. Ich bin der Autor, der das Drehbuch sowohl im Vor- als auch im Nachhinein verändern kann. Und wenn man sich der Realität machtlos ausgeliefert fühlt, dann ist die Fotografie ein bedeutsames Gut, das Kontrolle über die Wirklichkeit simuliert.

Doch auch unbearbeitet stellen Fotografien nie vollends die Realität dar – das ist einfach nicht möglich. Ein Foto ist immer ein Ausschnitt einer individuellen Interpretation. Realität ist so gesehen eine Frage des Blickwinkels: Bereits die Wahl eines Ausschnitts lässt eine andere Wirklichkeit entstehen. Dem Fotografen stehen dabei unendlich viele Möglichkeiten zur Verfügung, die Realität zu verändern – alleine schon durch die Einstellungen der Kamera oder den Winkel, aus dem er das Foto schießt. Sobald das Bild – ob leicht bearbeitet oder stark manipuliert – aber in die subjektive Realität eingefügt werden kann, so ist sie zumindest aus Sicht des betrachtenden Fotografen ein Stück weit Abbild seiner visuellen Wirklichkeit.

Bilder als Möglichkeit, Farben wiederzugeben, die verdeckt sind vom grauen Schleier der Depression

depression

Der Frühling leitet nun also die sonnige Jahreszeit ein, die Blätter bekommen wieder ihre Farben, die Blumen beginnen zu blühen. Aber wenn ich seine Inhalte nicht so wahrnehme, wie es der allgemeine Tenor vorgibt, dann gibt er mir auch keine Inspiration zur Kreativität. Und dann ist es nicht verwunderlich, dass ich kein Motiv gefunden habe, in dem ich die Schönheit erst erkannt hätte, wenn sie in ihrer einseitigen, manipulierten Visualität vor mir gestanden hätte.

Im Endeffekt ist es doch so: Die Depression nistet sich in mein Leben ein, in meine Realität. Aber die Depression hat nur indirekten Einfluss auf meine Bilder, indem sie meine Gedanken, meine Stimmung, meine Wahrnehmung und meinen Fokus zu dem Zeitpunkt, in dem ich mich für Motiv und Perspektive entscheide, beeinflusst. Über die Bildinhalte an sich jedoch hat sie keine Kontrolle. Wenn mich die Depression also beispielsweise gleichgültig werden lässt, dann nimmt sie mir die Fähigkeit, einen grundsätzlich schönen Moment in der Intensität und Wahrhaftigkeit zu erleben, in der er vor mir steht. Doch ein roter Sonnenuntergang bleibt ein roter Sonnenuntergang. Die Depression ändert nur meine Wahrnehmung, nimmt Farben, überdeckt Dinge mit ihrem grauen Schleier. Wenn ich mir aber ein visuelles Abbild des Moments zu einem späteren Zeitpunkt anschaue, inmitten einer ganz neuen Realität, dann mag ich die Schönheit vielleicht eher erkennen, als zu dem Zeitpunkt, in dem ich sie direkt erleben konnte. Einfach aus dem Grund, weil das Foto die Visualität des Moments filtert und sie von jener Realität trennt, die von der Depression massiv beeinflusst wurde. Fotos grenzen also genau das aus, was mich die Schönheit nicht erkennen lässt – nämlich ein riesengroßes Stück des depressiven, grauen Schleiers. Und so verhelfen sie mir zu einer manipulierten Wirklichkeit, in der ich die Kontrolle über Buchstaben, Farben und Kompositionen übernehmen kann. Oder ich schaue eben auf ein zusätzlich verändertes, bearbeitetes Bild, das dem Moment im Nachhinein die selbst kreierte Schönheit verleiht, die ich erleben will oder erleben wollte.
 
Das birgt Vorteile und Gefahren zugleich. Zum einen bekomme ich durch die Fotografie eine Möglichkeit, mich aus der grauen Aktualität herauszunehmen und einzutauchen in eine buntere Welt. Zum anderen aber distanziere ich mich auf gewisse Art und Weise vom wirklichen Leben. Insbesondere in Zusammenhang mit der ständigen Tagträumerei ist auch das Fotografieren eine Fluchtmöglichkeit zu einem Ort, in dem ich mich verlieren kann. Weil ich mich in ein trügerisches Gefängnis begebe, das mir heile Welt vorgaukelt, bis die Realität an die Tür klopft und mir eine scheuert, weil ich so lange weg war. Damit treibt sie mich tiefer in dieses Gefängnis und kommt dann mit doppelter Wucht zurück. Und ich stehe dann da und bin total überfordert mit dieser ganzen Wirklichkeit, die so plötzlich kam, weil ich sie zuvor kaum noch wahrgenommen habe.

Fotografie als Mittel, um das Schöne festzuhalten - nicht, um Schönheit erst entstehen zu lassen

Das mag deprimierend klingen. Aber das ist nun mal ein häufiges Symptom der Depression – ein grauer Schleier, der Dinge farblos und damit gleichgültiger erscheinen lässt. Man ändert Dinge jedoch nicht, indem man sie deprimierend findet. Man ändert nichts durch Gedanken. Ich kann sagen „Oh Gott, das ist ja furchtbar“ und mich dann wieder der alltäglichen Unzufriedenheit widmen – so wie es viele machen werden. Auch ich. Weil es eben harte Arbeit ist, aus diesem Gedanken-Gefängnis auszubrechen.

In Zukunft möchte ich mich weiter zum Fotografieren animieren, mit einem Unterschied: 
Ich möchte nicht fotografieren und danach die Schönheit im Bild sehen oder das Bild so lange bearbeiten, bis ich es schön finde. Ich möchte zuerst die Schönheit wahrnehmen und sie dann in einem Foto festhalten. Das ist der Grund, der mir Lust aufs Bildermachen geben sollte. Und das lässt sich üben. Üben, indem man sich zum Beispiel nur auf einen einzigen Sinn konzentriert, während man spazieren geht. Unsere Wahrnehmung steht in einem Abhängigkeitsverhältnis zu unseren Sinnesorganen. Wenn ein Sinn nur eingeschränkt funktioniert, so ist auch unsere Wahrnehmung behindert. Wenn man sich nun speziell aufs Sehen konzentriert, dann nimmt man Bilder und Farben in der Regel viel intensiver wahr. Es ist ähnlich wie mit einem Foto, nur noch einen Schritt weiter in die richtige Richtung. Man blendet andere Faktoren aus, die nur gemeinsam die Realität ergeben, aber man hat keine Möglichkeit mehr, das, was man sieht, frei nach seinen Wünschen zu verfälschen. Letztes Mal, als ich die Übung gemacht habe, ist mir schon nach kurzer Zeit ein Eichhörnchen aufgefallen, das über die Wiese gelaufen und dann den Baum hochgeklettert ist. Das Faszinierende daran war nicht, dass ich ein Eichhörnchen gesehen habe, sondern dass ich diesen Moment durch eine einfache Übung viel bewusster wahrnehmen und ihn folglich mehr genießen konnte. Ich versuche Schönheit also zunächst einmal durch eindimensionale Realität wahrzunehmen, indem ich mich nur auf einen Sinn konzentriere, diesen aber im Hier und Jetzt erlebe.


Wenn man die Fotografie in diesem Kontext sieht, dann handelt es sich nicht nur um das Schießen eines Fotos. Es handelt sich um Wirklichkeit und Verzerrung. Es geht um Kontrolle, um Einfluss, um Wünsche und um Selbstbestimmung.
Natürlich ist es heutzutage so, dass fast jeder Gebrauch von Bildbearbeitungsprogrammen macht, um Fotos zu perfektionieren und somit etwas zu schaffen, das viel zu glatt ist, um real zu sein. Doch nicht bei jedem bedeutet das dann auch gleich Flucht – es wäre ja schlimm, wenn Fotografie für alle eine Form der Realitätsverweigerung oder ein Ausweg aus eben jener wäre. Dennoch geht es meistens darum, etwas zu verändern. Zu optimieren. Zu Verschönern.

Das Schöne in der Realität erkennen lernen

Ein Bild ist also aus objektiver Sichtweise immer eine Verfälschung von Wirklichkeit. Und auch subjektiv lässt es sich nur in die eigene Realität eingliedern, wenn es aus der tatsächlichen Wahrnehmung des Moments entsprungen ist. Wenn es wahrhaftiger Teil der Wirklichkeit war und wenn es reale Erinnerungen weckt. Und dann ist es auch unbedeutend, wie sehr das Foto im Nachhinein manipuliert wurde:

 Wenn es sich in die Zusammensetzung der wahrgenommenen Realität einfügen lässt, dann wird das Bild aus dieser ganz subjektiven Perspektive zur Abbildung der persönlichen Wirklichkeit. Wenn es sich aber nicht in diese Realität einfügen lässt, dann wird das Foto zum Zweckmittel, das noch auf etwas anderes abzielt, als nur zu optimieren oder zu verschönern. Und dann lässt es sich auch subjektiv nicht mehr mit der persönlichen Realität in Verbindung setzen. 
 
Ziel sollte jedoch nicht sein, dass sich die Fotografien in die eigene Wirklichkeit eingliedern lassen und somit zum realen Bestandteil persönlicher Wahrnehmung werden. Ziel sollte sein, die Fotografien – ganz egal, wie viele tolle Farben man ihnen auch verleiht – niemals an die Schönheit des Moments herankommen zu lassen.