Jeder ist seines Glückes Schmied – oder?

Wir stellen uns vor, das Leben sei eine Landkarte. Es gibt unendlich viele Wege und Ziele. Jeder Weg, jede Richtung, ist eine Entscheidung, die wir treffen. Wir können nicht alle Wege gehen, doch wir können Teile von uns auf eine Reise schicken. Es gibt Abzweigungen, Tunnel und unbekannte Pfade. Nichts ist vorgeschrieben, nichts ist Gesetz. Nur das Ende, das ist sicher.

„Jeder ist seines Glückes Schmied.“

„Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagt ein alter Spruch mit weisem Ton. Ich zweifle noch immer an seinem Inhalt. Und nicht nur das: Ich halte ihn sogar für sehr ideologisch und schuldzuweisend. Denn was bedeutet dieser Satz? Können wir alle glücklich und zufrieden sein, wenn wir es nur wollen? Wenn wir immerzu bemüht sind, das Glück einzuladen in unsere kleine Welt? Ist denn alles nur eine Frage der inneren Einstellung und der Ausdauer und Mühe, die wir in sie investieren?
Mir ist das zu kurz gedacht, obwohl ich auch oft dazu neige, jeden Gedanken wie Kaugummi in die Länge zu ziehen. Vielleicht will ich mir die mögliche Wahrheit der Aussage auch einfach nicht eingestehen – denn das würde wohl bedeuten, dass ich in meinem Leben noch nicht sehr engagiert geschmiedet habe. Bin ich die falschen Wege gegangen, habe ich die falschen Entscheidungen getroffen? Habe ich mir nicht genug Mühe gegeben, ein glücklicher und erfolgreicher Mensch zu werden?
Mich frustrieren diese Gedanken, denn irgendwie sagen sie mir doch, ich sei selbst daran Schuld, ein überwiegend unzufriedenes, unglückliches Leben geführt zu haben. Gleichzeitig muss ich meine Gedanken korrigieren: Es geht bei all dem nicht um Schuld. Denn wenn wir immer das bestmögliche Handwerkszeug zur Verfügung hätten und zu jeder Zeit wüssten, wie wir es einzusetzen haben, um unser persönliches Glück zu erfahren – dann würden sich wohl sehr viele Probleme vieler Menschen auf einen Schlag erübrigen. Und so erinnere ich mich daran, in manchen Situationen der Vergangenheit einfach auch mal gern eine Gebrauchsanweisung gehabt zu haben, um nicht ganz so überfordert mit meiner Verantwortung vor meinem Unglück zu stehen.

„Die Entscheidung ist der Zukunft Ursprung.“

Wenn jeder seines Glückes Schmied wäre, dann würde das unerschöpfliche, absolute Macht und Handlungsfreiheit bedeuten. Doch – und darüber wird hinweggetäuscht – wir haben keine Macht über das Unvorhergesehene, auch wenn wir uns das oftmals wünschen würden. Situationen kommen, Dinge passieren, Zeit vergeht. Vieles, das uns von außen zugetragen wird, befindet sich außerhalb unserer Kontrolle. Sei es ein plötzlicher Verlust, ein Unfall, eine Krankheit. Wenn es dann darum geht, den bestmöglichen Umgang mit der Situation zu finden, dann fehlt uns ab und an auch mal der passende Hammer für den Nagel oder der richtige Bohrer für die Dübel. Das hat zur Folge, dass es eben auch Augenblicke gibt, in denen wir nicht den Hauch einer Ahnung haben, wie wir unsere kleine Welt wieder zusammenbauen sollen. Und somit auch nicht, wie wir glücklich werden sollen.

Um die Gedanken abzukürzen und nicht wieder in der unendlichen Weite der Philosophie zu landen (denn dort verlaufe ich mich regelmäßig): Die Entscheidung ist der Zukunft Ursprung, das wäre ein Satz, der zumindest auf mich jene motivierende Wirkung hätte, die ich beim Ausgangszitat vermisse. Wir treffen jeden Tag Entscheidungen. Einige sind kleiner, andere sind von größerer Tragweite. Mit jeder Entscheidung können wir unsere Zukunft zwar nicht sicher formen, doch wir haben Einfluss auf die Richtung, in die es gehen kann. Damit besitzen wir nicht automatisch völlige Handlungsfreiheit, aber sehr wohl einen gewissen Handlungsspielraum, innerhalb dessen wir Einfluss nehmen und Voraussetzungen schaffen können.

Der Unterschied von Schuld und Verantwortung

Was ich damit sagen will: Natürlich sind wir verantwortlich für unser Leben. Für die Entscheidungen, die wir treffen, für unser Handeln und unser Abwarten. Doch wir dürfen eben auch nicht vergessen, dass die Fähigkeit, sein Leben voll und ganz selbst zu kontrollieren, Grenzen besitzt. Die Vorstellung, dass das Glück immerzu ein Ergebnis der eigenen Lebensgestaltung sei, ist illusorisch. Das soll nicht entmutigend klingen, im Gegenteil: Es soll uns die Gelassenheit geben und den Mut zur Akzeptanz, auch mal machtlos und verzweifelt sein zu dürfen, ohne dass dies gleichzeitig Ausdruck eines Scheiterns an uns selbst darstellt. Mit dieser Sichtweise geben wir uns die Möglichkeit, einen verständnisvolleren Umgang mit uns selbst zu finden. Und erst dann gehen wir von der Passivität einer Schuldzuweisung hin zu einer Realität, in der wir die Verantwortung tragen für die Entscheidungen, die wir treffen – nicht immer jedoch für das Ergebnis, das sich durch den Status Quo unseres Lebens abzeichnet.
 
Und so sage ich mir: Ich bin nicht Schuld an dem Leben, das ich bisher geführt habe – ich trage nur die Verantwortung für die Entscheidungen, die ich traf, treffe und noch treffen werde. Das ist der Unterschied.