Lebenspfade

Es ist neblig. Die Gassen sind leer, das Licht erloschen. Ich gehe einen Schritt weiter.
Es lässt sich schwer atmen, als würde der Luft Sauerstoff fehlen. Als würde mir Sauerstoff fehlen.
Die Stadt ist klein und dreckig. Der Mondschein drängt sich lustlos durch graue Mauern. Ein paar Bäume stehen nackt und schutzlos in der Dunkelheit, vom Wind geschunden und doch standhaft das Leid ertragend. Ich gehe einen Schritt weiter.
Zum Stadtrand hinaus führt eine Schlucht ins Nichts. Die unendliche Tiefe macht mir Angst. Unendlichkeit macht mir Angst. Dennoch ist dort etwas, das ich beruhigend finde. Etwas, das mich hier rausholt. Ich gehe einen Schritt weiter.

Nun stehe ich hier. Würde der Wind mich jetzt kalt erwischen, dann gäbe es keinen Weg zurück. Die quälende Entscheidung hätte er mir zumindest abgenommen. Vielleicht ist die Dunkelheit auch wärmer, als das immertrübe Grau. Vielleicht würde es mir gut gefallen?
Ich fühle mich unwohl. Das Leid packt mich mit voller Wucht und weiß nicht, in welche Richtung es mich zerren soll. Vorne das angsteinflößende Nichts, hinten die quälende Vertrautheit.
Ich will hier nicht bleiben! Ich werde diesen Ort verlassen! Gibt es denn keinen anderen Weg? Ich gehe einen Schritt zurück.
Ja, kenne ich mich hier wirklich aus? Jede Gasse, jeder Winkel ist verbraucht, jede Geschichte ist geschrieben. Ist es auch meine? Ich gehe einen Schritt zurück.

Nein, es muss einen anderen Ausweg geben! Der innere Widerstand überrascht mich, aber er ist klar zu spüren. Ein Widerstand gegen die Hoffnungslosigkeit, gegen das Hier und Jetzt. Ich weiß nicht, ob ich einen schöneren Ort finde, aber es muss ihn geben. Ich gehe einen Schritt zurück.
Jeder Schritt, den ich einst gegangen bin und nun wieder gehen muss, durchfährt meinen gesamten Körper. Meine Haut brennt, meine Seele schmerzt. Mit letzter Kraft beginne ich mich durch altbekanntes Land zu kämpfen, beginne ich zu suchen. Plötzlich sehe ich am Horizont einen kleinen Hoffnungsschimmer aufleuchten, der mich begleitet. Er erfüllt meine Suche mit Sinn. Er erfüllt mein Dasein mit Sinn.

Und sollte mich die Unendlichkeit doch irgendwann zu sich ziehen – dann wird die Angst vergessen und der ersehnte Ort für mich ewig graues Leben bleiben.